Friday, 27 November 2015

EMILY ANDERSON

Bohnen, Emily hatte ein paar Dosen Bohnen gefunden, sie konnte es kaum glauben. Dunkle Schokolade und Marmelade, "Autumn Harvest". Was für ein Luxus. Die Mindesthaltbarkeit der Hersheys war erst seit zwei Jahren abgelaufen, produziert kurz vor dem Zusammenbruch. Gott verdammt, sie war in einem Haus, das noch nicht geplündert war. Emily überkam die Freude so heftig, dass die sich fast wie eine Krankheit anfühlte. Aber sie hatte gelernt, ruhig zu bleiben gegenüber all denen, die sie jetzt vielleicht hören konnten.

Außerdem musste sie in Erwägung ziehen, dass die Kidneys, die Schokolade, die Cherry Republic und die Packung Detroit Bold (sie hatte Kaffee gefunden!) erst seit kurzem hier lagerten. Beute von jemand anderes vielleicht. Und dabei ging es ihr sicher nicht darum, dass sie es ihm wegnehmen musste. Es ging darum, dass derjenige jeden Augenblick in der Tür stehen und das alles hier bis aufs Blut verteidigten konnte. Sie war so müde.

Sie packte die Sachen ein und sah sich noch nach einer Karte um. Seit einigen Tagen irrte sie ohne Orientierung umher. In dieser ganzen Zeit hatte sie nur einen einzigen Menschen getroffen, einen Mann, den sie am Ende hatte erschießen müssen. Mit einem Michigan-Reiseführer in der Tasche und ihrem Gewehr in der Hand verließ sie schließlich das Haus, gerade noch rechtzeitig um zu sehen, wie oben, am Ende der Straße, eine kleine Gruppe von vermummten Leuten mit Macheten hinter einem ausgebrannten Bungalow verschwand. Sie hatten sie noch nicht gesehen.

Friday, 20 November 2015

RAHI el-SAWI

Die saudischen Kampfjets kamen zu spät. Nachdem die Schergen des Islamischen Staates Mekka erobert hatten, stellten sie zwei kleine Camcorder auf und filmten sich dabei, wie sie mit einem Vorschlaghammer auf die Kaaba eindroschen. Die Wahhabiten schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, eine Geste, die in Windeseile um die ganze Welt ging. In Europa und sogar in den USA fanden sich Tausende Menschen in dieser Haltung auf Demonstrationen gegen Gewalt ein. Es war ein Symbol dafür, dass der Terror durch den Islamischen Staat nichts, aber auch rein gar nichts, mit dem Islam zu tun haben solle.

Der IS schickte seinem Eroberungsfeldzug eine Warnung voraus, der der saudische König nur mediale Drohgebärden folgen ließ. Jetzt blieb es Sache islamischer Gelehrter, durch die Fernseher im Land zu sprechen und zu erklären, dass die Hadsch und das Berühren der Kaaba sehr wohl heilig und im Sinne des Propheten seien. Sie mussten das aufgebrachte Volk beruhigen. Mehr passierte vorerst nicht, der IS war schließlich nicht shiitisch. Die Terrormiliz hatte das Anbeten eines Steines als Gotteslästerung bezeichnet, auf die als Strafe nur der Tod folgen könne, ihn zerstört, und das war's.

„So ein Unsinn“, sagte die Lehrerin zu Rahi und hielt ihr stoisch das Kopftuch hin. Die Ausrede mit der Polyester-Allergie hatte nicht geholfen. Dafür hatte sich der Gesichtsausdruck der Lehrerin verändert, die jetzt noch viel verknöcherter als sonst Mohammeds Gesetze zitierte. Das Gesicht einer Frau, die innerhalb der Mauern alles bestimmte, sich außerhalb aber hinter billigem Stoff versteckte, hinter Stoff, der an so vielem Schuld sei, wie es plötzlich aus Rahi herausbrüllte. „Ihr könnt den IS vielleicht besiegen, aber das da macht es, dass es immer wieder einen neuen geben wird. Und daran wird sich nie etwas ändern!“

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"Rahi" bedeutet Frühling.

Thursday, 12 November 2015

BORIS ALJENKO

Nadjinka rieb sich ihre Füße unter der Wolldecke warm. „Chinesen schmatzen, wenn sie essen“, sagte sie, ohne es jemals selbst erlebt zu haben. Sie hatte Russland noch nie verlassen und noch nie einen Chinesen gesehen, bevor sich in Surgut ihre Kabinentür geöffnet hatte und zwei Geschäftsmänner aus der Mandschurei hereinkamen, dampfendheiße Nudelsuppe in den Schüsseln. Boris Aljenko leckte hinter seinen geschlossenen Lippen über die Schneidezähne und sah in die tief verschneite Taiga hinaus, in die sich der Zug langsam vortastete. „Nadjinka, Nadjinka“, dachte er, aber die Chinesen schienen offenbar nichts verstanden zu haben.

Sie saßen nur da, die Schüsseln auf ihrem Schoß, und nahmen von Boris und seiner Frau keine Notiz. Nach einer Weile sagte der eine etwas, so dass der andere laut auflachen musste. Da hatten sie gerade die letzten Häuser passiert, vor deren Türen die Fußspuren im Schnee noch nach Surgut wiesen. Sie waren noch soweit von Nadym entfernt wie der Sommer von diesem Ort, und Boris teilte mit Nadjinka zunehmend den Missmut, über einen halben Tag hinweg mit diesen beiden fremden Gestalten ihr kleines Abteil teilen zu müssen. So sah es doch nun aus, oder etwa nicht, „Sie fahren doch nach Nadym?“, fragte Boris den Chinesen ihm schräg gegenüber. Der aber reagierte nicht.

„Fahren Sie nicht nach Nadym?“, fragte Boris ihn erneut. Auch Nadjinka sah sich jetzt nach ihnen um, und diesmal schauten die Chinesen auf. Aber dann stand plötzlich der Schaffner in der Kabinentür. Seine Fingerknöchel drückten sich weiß aus seiner Hand, mit der er die Rolltür in ihrer Position hielt. „Es tut mir leid, wenn ich Ihnen das sagen muss, aber wir werden nicht viel weiter als Kogalym fahren können.“ Der Schnee habe weiter im Norden die Gleise verschluckt. Da gäbe es kein hin und zurück. Kogalym also. Eine Woche, bis der Zug es erneut versucht. Und die Chinesen? „Nadym, Nadym“, sie grinsten Boris an und zeigten auf sich selbst.