Cécile Lagarde hatte viel Hoffnung in ihr neues Haus gesteckt. Man kann es nennen, wie man will, eine Flucht, ein neues Leben ... Cécile beginnt es am Rande eines Dorfes im Nichts, in dem sie niemanden kennt, in dem sie die Blicke nicht deuten kann, die sich von Tag zu Tag mehren.
Der Winter hält die Leute in ihren Häusern fest, die Kälte zerrt dichten Rauch aus den Schornsteinen in die Höhe. Cécile sieht aus dem Fenster, links die Nacht, rechts das Dorf. Mit ihren Rollläden rauben die anderen sich die Sicht auf das Licht im Wald, das ihr in die Augen sticht und sie an der kalten Scheibe hält wie eine Somnambule.
Gestern hatte sie noch ihr Nachthemd an, zog mal den einen Fuß, dann den anderen von den blanken Dielen. Heute steckt sie in ihrer Jeans, die Füße fest in schönen Stiefeln. Selbst mit deren Absätzen wird sie nicht im Weg versinken. So eisig ist's im Boden. Hat sie denn wirklich geglaubt, es sei vorbei? Hat sie wirklich geglaubt, sie könne sich selbst entfliehen?
Tuesday, 27 January 2015
Tuesday, 30 September 2014
PIETJE POHL
Pietje Pohl hat einen Führer. Und das Tollste ist: Er weiß
es nicht. Wenn er es wüsste, dann würde er sich doch schwer über sich selbst
wundern. Denn er hält sich für kritisch und klug. Er ist es auch. Aber sein
Führer war zunächst ganz leise an ihm dran.
Der Führer wusste, wo er Pietje packen konnte. Er schmeichelte
ihm und ließ ihn träumen. So einfach es war, aber Pietje hatte Sorgen, die man nur bedienen musste, und dann lauschte er auch gern. Und so träumte er sich mit seinem Führer weg,
bis hinein ins Paradies. Er vertraute ihm immer mehr. Und wenn sein Führer auf
neue Ideen kam, dann waren die recht bald Gesetz: „Wie soll es denn auch anders
sein?“
Alte Freunde hielten manche dieser Ideen für komisch und
sagten Pietje, er solle sie doch mal hinterfragen. Aber er war schon so weit,
dass er glaubte, sie wollten ihm sein Glück nicht gönnen, und wehrte sich sehr
schnell. Dabei wollten sie nur ihren Alten zurück, denn der Neue lag ihnen fern.
Wie ich den neuen Pietje finde, kann ich nicht bemessen. Ich kenne
ihn nicht, er kommt aus seinem Haus nicht raus. Es genügt ihm schon, wenn der Führer sagt, er könne es draußen vergessen.
Monday, 29 September 2014
FILIPE CARVALHO
Filipe Carvalho bückte sich, um der Alten wieder auf die
Beine zu helfen. Aber Mariana war schneller. Sie hatte ihr bereits unter den
Arm gepackt. „Nimm doch mal meine Tasche und geh schon mal vor, ich helfe der
Senhora“, sagte sie und schickte Filipe alleine die Gangway hinunter, während sie
sich dem Tempo der Alten anpasste.
Sie waren ziemlich weit vorne gewesen beim Check-in, und so
war er auch einer der ersten im Flugzeug. Ihm folgten immer mehr Passagiere
durch die Tür und quälten sich zu ihren Plätzen. Das sah sich Filipe eine Weile
gelassen an, doch mit der Zeit wurde er nervös: Mariana kam nicht nach.
Als alle anderen ihren
Sitz eingenommen hatten und sie immer noch nicht aufgetaucht war, winkte Filipe
eine Stewardess zu sich. „Und die Senhora? Ist sie denn da?“, fragte sie, aber
Filipe sah nur Köpfe um sich herum und sie alle waren gleich. Er konnte es
nicht sagen. „Mariana Souza“, wiederholte er stattdessen und ließ sich wieder auf seinen 8 D fallen.
Die Stewardess beugte sich zu ihm herunter und steckt seinen Gurt zusammen.
Dann ging sie nach vorne, wo sie in der Gangway verschwand. Auch sie sollte er nie
wieder sehen.
Tuesday, 23 September 2014
LOLE BILLER
Stell Dir vor, dass jemand in, sagen wir mal, 500 Jahren ein
extraplanetarisches Studium absolviert und in dieser Zeit eine Frau kennen lernt. So wird es Falih Yang ergehen, geboren am 27. November 2507 in Kenston,
das ungefähr zwei Flugstunden vom Mount Olympus entfernt liegt. Der Mount Olympus ist der
höchste Berg im Sonnensystem, und er befindet sich auf dem Mars.
Falih Yang wird, bis er 20 ist, Kenston nie verlassen haben.
Aber dann folgt er seinem Plan und fliegt zur Erde, um in der Schweiz zu
studieren. „Wir reden von Mathematik und Informatik“, wie seine Mutter immer
sagt. Im Jahr 2533 schafft er mit Auszeichnung den Abschluss in beiden
Fächern und ergattert sich unter den neidvollen Blicken einiger Kommilitonen gleich einen Assistentenjob am
Teilchenbeschleuniger am Cern.
Dies ist aber nicht seine Geschichte. Es ist die von Lole Biller,
die Falih an einem Silvesterabend beim Raketenschießen in der Züricher Altstadt
das erste Mal an sich gezogen haben wird. Es ist nicht seine, denn er will wieder zurück und stellt Lole Biller eines Morgens zwischen Milchkaffee und Schinkenspeck vor die
Wahl: „Komm mit mir, oder Du bleibst halt hier.“
Wenn man zum Mars fliegen will, muss man ein Zeitfenster
abpassen, in dem sich der Rote und der Blaue Planet sehr nahe sind. Jenseits
dieses Fensters hat das Reisen keinen Sinn, und man muss Jahre warten, bis man
wieder wechseln kann. Es wäre also ein Abschied für lange Zeit von ihren Eltern,
ihren Freunden und allem, was ihr lieb ist.
Aber Loles Entscheidung war schon klar, bevor überhaupt eine vonnöten war.
Wednesday, 4 June 2014
INDIA FLYNT
Am Anfang war noch alles in Ordnung. India Flynt bekam einen freien Nachmittag, den
sie alleine am Strand von Sutton on Sea verbringen wollte. Das konnte sie jetzt
gut gebrauchen, nach all dem Stress und den nervigen Leuten um sie herum. Sie
hatte sich ihre Tasche schon am Morgen vor der Arbeit gepackt und setzte sich in
ihrem Drang nach Abgrenzung von allem und jedem barfuß hinters Steuer. Nur weg von hier. Alleine sein, bis es dunkel
wird.
India hätte es verdient gehabt. Irgendwas Interessantes wäre am Strand passiert. Unerwarteter Sex? Wer weiß. Aber dann kam ich, ihr Erfinder, schlecht drauf. Hinter Maltby Marsh tauchte plötzlich ein
von Hühnern verschissener Kleinlaster mit grotesk lächerlicher Werbeaufschrift auf
und nahm ihr die Vorfahrt. India reagierte so, als habe sie noch ihre Pumps an.
Aber ihr nackter Fuß ist nun mal kürzer. Die mit Manhattan 45P lackierten, zierlichen Zehen rutschten von der Kante des Bremspedals, und Indias Aston begann es Sekunden
später, fürchterlich zu zerfetzen.
Das Gleiche wäre auch ihr selbst passiert, wenn ich nicht vor mir ihren enttäuschten Blick gesehen hätte. Das rettete ihr das Leben. Statt mit dem Kopf
unter dem aufgerissenen Dach mit 70 Meilen pro Stunde gegen die
Trittbretter des Lasters zu klatschen, schleuderte es sie doch noch rechtzeitig aus
dem Wagen ins Freie.
In einer Wiese kam India wieder zu sich. Alles wirkte so friedlich, Wind raschelte in den Blättern eines Baumes. Sie versuchte aufzustehen.
Aber Blut hatte sich zusammen mit frischem Gras an Wange und Schläfe verkrustet. Und die Grashalme hielten sie fest. So schwach war sie jetzt. Aber bitte, sie lebte.
Thursday, 24 April 2014
ÁSDÍS GUNNARSDÓTTIR
Nachdem man Ásdís Gunnarsdóttirs leblosen Körper auf dem
Boden und ihren Abschiedsbrief samt an puren Wahnsinn grenzender Formelsammlung
gefunden hatte, waren Brynjar und Ásdís‘ studentische Hilfskraft, ein kurz angebundenen Österreicher im
Erasmus-Programm, enorm geschockt. Sicherlich spielte
die Nachricht ihres Suizids dabei eine gewisse Rolle. Schlimmer aber wirkte
die Ironie, dass eine vom Institut als hochintelligent eingestufte und
dementsprechend hochbezahlte Kraft sich derart irren konnte.
Doch in Wahrheit irrten die anderen. Brynjar, der sich als
Chef einen feuchten Dreck um seine Angestellte geschert hatte, wusste nicht,
dass sie Minuszeichen wie Punkte aufs Papier hetzte. Und so scheiterte er, über die Tote gebeugt, gleich bei der dritten Zeile in einem völlig absurden Ergebnis, dessen
Formengewirr den Österreicher an eine in einen Karton geschissene Katze
erinnerte. Brynjar warf Ásdís‘ Block vor den Augen des arbeitsscheuen
Kriminalkommissars in den Müll.
Ásdís aber hatte Recht. In der Nacht auf den 21. Juli 2069
hatte sie den unglaublichen Beweis erbracht, dass es mehrere Universen gibt,
und zwar unendlich viele. Sie konnte auf Seite 442 ihrer Abhandlung sogar
darstellen, dass der Tod der einzig mögliche, dafür aber gesicherte Übergang ist. Noch während Brynjar bei der Personalabteilung anordnete, Ásdís
Gunnarsdóttirs Gehalt ab sofort nicht mehr auszuzahlen, wurde sie auf einem Planeten wiedergeboren, dessen gesündestes Gemüse nach zarten
Küssen schmeckt.
Wednesday, 9 April 2014
MILLIE FELLER
Millie Feller war gerade dabei, ihren Plymouth zu waschen, als ein
völlig durchnässter, etwas kurz geratener Mann vor ihr auftauchte und ihr
mit vorgehaltener Pistole den Vorschlag unterbreitete, ihm so schnell wie
möglich einen Gefallen zu erweisen. Man kann sich vorstellen, dass Millie unter
diesen Umständen direkt den Waschlappen fallen ließ und ohne zu zögern dem Kerl zum Bach in das nahe Wäldchen folgte – und das, obwohl sie sich schon in der
gesamten Nachbarschaft als äußerst stures Ding einen Namen gemacht hatte.
Sie galt außerdem als sehr schweigsam und zog es auch diesmal vor, absolut nichts zu sagen, als sie im Wasser einen Ford V 8 mit der Schnauze gegen die Böschung gedrückt entdeckte. Dafür aber sprudelte es schon seit Minuten aus dem nassen Mann heraus, der von einer Begehrlichkeit auf die nächste kam.
Er hätte es vielleicht selbst nicht für möglich gehalten, aber Millie konnte sie alle erfüllen: Verbandszeug und Jod für
die stark blutende Frau auf dem V-8-Rücksitz waren im Schrank
rechts unter der Spüle, saubere Hemden lagen in der Kommode drüben links in der Diele. Und sie hatte eben jenen frisch gewaschenen Plymouth, dem sie noch so lange hinterher sah, bis die
Fremden mit ihm hinter dem staubigen Horizont verschwunden waren. Millie starb,
bevor ihr Name wegen dieses kleinen Ereignisses einmal in einem Buch erscheinen
sollte.
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