Wednesday, 27 May 2015

VICTORIA "VICKI" HOLMES

In Vickis Augen lag eine Ahnung von „ich habe ganz sicher nicht um seinen Besuch gebettelt“, jedes Mal, wenn sie irgendeinem Bekannten über den Weg gelaufen war, und das passierte ständig an diesem schwülen Tag, an dem sie den Fremdenführer spielen musste. Das war doch sonst nie so. Wann war Vicki Holmes vorher denn jemals vor St. Pauls einem ihrer Freunde begegnet?

Schon schlimm genug, dass er immer weiter machte mit seiner guten Laune und dem wachtelmäßigen Sightseeing. Sie musste ihm den Piccadilly Circus zeigen, über die Tower Bridge rüber, mir nichts dir nichts essen gehen, zurück nach Soho – und sie hatte es sich schon gedacht – wo er sich schämte. All dieser Mist. In Camden Town glotzte ihr irgendso ein Typ auf den Arsch und stand in Chelsea schon wieder hinter ihr, als ihr Freund, oder wie soll sie ihn eigentlich nennen, gerade dabei war, sich ein Softeis in die Waffel drücken zu lassen.

Während er von der einen Seite leckte, machte sich auf der anderen schon der erste Tropfen auf den Weg, um vielleicht doch noch rechtzeitig die Kurve zu kratzen, nichts wie weg von hier, von seiner Zunge, die sonst auch nicht so viel konnte, oder von allem hier, vom Brompton Friedhof, wo Vicki die ganze Zeit auf der Bank schon gar nichts mehr gesagt hatte. Und als "ihr Freund" oder wie auch immer beim Auf- und Abhocken aus Versehen mit seinem Bein das ihre berührte, hätte sie lieber hinten in den Dornen gesessen.

Wednesday, 20 May 2015

N.N.

Lange Zeit hatte ich zu wissen geglaubt, wer meine erste Freundin war. Ich lag aber falsch. Meine erste Freundin wohnte im selben Wohnblock wie ich in Saarlouis in der Metzer Straße, nur in einem anderen Flügel. Wir konnten uns sehen, wenn wir an unseren Fenstern zum Innenhof standen.

Mit ihr verbinde ich meine vielleicht sogar früheste Erinnerung. Es muss 1979 gewesen sein. Wir spielten in einem der Räume, die sie zusammen mit ihrer Mama bewohnte, „eine bildhübsche Frau“, sagte meine Mutter heute im Auto, während sie mich zum Zahnarzt fuhr. Und das kleine Mädchen habe schulterlange dunkle Haare gehabt, genau wie in meiner Erinnerung. Und ich weiß noch: Ich mochte sie sehr.

Wie kann es sein, dass nach all den Jahren mir plötzlich diese Erinnerung hochkommt? Ich weiß es nicht, genauso wenig wie heute ihren Namen. „Irgendetwas mit F“, sagte meine Mutter, als sie in die Torstraße einbog, „so wie Fatima oder Felicitas“. Ihre Mama war damals, in jungen Jahren schon, an Multiple Sklerose erkrankt.

Monday, 18 May 2015

HINANO MATSUMOTO

Das Telefon klingelte, und Hinano Matsumoto sah schon an der Nummer im Display, dass es ihr Makler war. Wenn sie und ihr Mann sich in der Zwischenzeit nichts anderes vorgenommen haben, könnten sie sich doch noch zur Besichtigung treffen. Ein anderer Termin sei geplatzt, sagte der Makler, ein Termin, der vorher so wichtig gewesen war, dass er hatte den ihren „leider“ absagen müssen.

Hinano und ihr Mann hatten tatsächlich noch nichts vor und schlüpften schnell in ihre Schuhe, um zu dem alten Haus zu fahren. Es hatte zwar wenig Besonderes, aber es lag zu gut, als dass es Hinano den Stolz wert gewesen wäre, im Gegenzug nun den Makler zu versetzen, egal was er mit ihnen trieb.

Das bedeute aber nicht, dass sie guter Laune waren, als sie beide in Kyoto ankamen. Das Auto des Maklers stand schon vor der Tür, die nur angelehnt zum Eintreten einlud. Als Hinano gleich einer Katze abschätzend hindurch schlüpfte und durch den Flur zu einem zufällig ausgewählten Zimmer schlich, stand der Makler hinter dessen Tür und versuchte, noch rechtzeitig eine letzte Spur zu verwischen.

Sunday, 10 May 2015

MAHA FANI

Im Zimmer fand ihn Maha Fani nicht, in der Küche war er nicht, im Schlafzimmer nicht und auch nicht im Flur. Sie war gerade aus den Dornen gekommen. „Mahmoud?“ Maha lauschte, aber sie hörte nur die Hühner gackern und eine Ziege, die beim Nachbarn war. „Mahmoud?“

Maha hob den Saum ihres Umhangs von den Fliesen und huschte in den Hof, so dass die Hühner auseinander preschten und um sie herum in die Ecken flohen. Ihren Mann fand sie auch hier nicht. Aber dann hörte sie im Haus sein Husten. Sie kehrte um und folgte den Schalen der Kerne, die Mahmoud jetzt auf dem Teppich genoss.

Als er Maha mit der Waffe durch die Tür kommen sah, hörte er mit dem Kauen auf, und sie konnte den Brei zwischen seinen Lippen sehen. Er klang eilig, als er endlich das Wort ergriff: „Du hältst sie falsch, Frau!“. Da fing Maha an zu lachen, so laut, wie noch nie vor ihrem Mann.

Saturday, 9 May 2015

LUIS MOSQUERO

Am selben Abend, nachdem Luis Mosquero in den Rio Caquetá gesprungen war, um das Boot zum anderen Ufer zu drücken, wurde er zum ersten Mal des Schmerzes gewahr, der seinen rechten Fuß durchzog. Seine Frau bemerkte, wie sich sein Gesicht verkrampfte. Aber sie sagte nichts, sondern senkte ihre Augen und aß weiter von ihrem Reis mit Huhn.

Zwar flaute der Schmerz kurze Zeit später wieder ab, doch in der Nacht kam er mit aller Macht zurück. Es fühlte sich an, als würde das Fleisch verbrennen und unter der Sohle fremdes Leben entstehen. Doch Luis glaubte noch immer daran, dass der Schmerz sich schon wieder geben werde, und wartete mit seinem Besuch beim Arzt, bis die Qual ihn weinen ließ.

Als man ihn zur Praxis brachte, konnte Luis kaum noch gehen. Die Assistentin hakte sich bei ihm ein, um ihn bis zum Stuhl zu stützen, da kam der Arzt schon herein und mit ihm ein seltsames Gefühl, das sich Luis bemannte. Der Arzt trug blondes Haar und bemühte sich, ein Grinsen aus seinem Gesicht zu löschen. Und Luis sah, wie die Assistentin den kranken Fuß in ihre kühlen Hände nahm, und hoffte, ihren Blick zu finden.