Tuesday, 15 September 2015

BESSE BONE

Ist es nicht eigenartig, dass der fette Jim sich jahrelang vor der Polizei verstecken konnte, aber Besse Bone es mit einem einzigen Spaziergang gelang, einem Spaziergang, den selbst Grandpa Pete geschaffte hätte, die wirklich schäbige Bretterbude im Wald irgendwo in Virginia zu finden, ich sag jetzt nicht wo, in der die Destille klapperte, als wäre sie der Zinnmann aus dem Wizard von Oz? Ist es nicht eigenartig? Der Redneck verstand die Welt nicht mehr, als sie plötzlich in der Tür stand und eine Winnie auf ihn richtete, dieses zarte Geschöpf.

Für Besse spielte es keine Rolle, winselt der Scheißkerl um Gnade und bleibt dann am Leben oder macht er auf stur und dann ab in den Sarg. Sie bekam den Abzug nicht zu sich gezogen, das war der einzige Grund, warum es noch nicht knallte. Jim schnappte sich eine Pfanne und schlug sie gegen den Lauf. Wumm, der Schuss ging schnurstracks durch das Dach und jagte draußen irgendwelchen Tieren einen mächtigen Schrecken ein. Aber Besse fing sich und schoss nochmal. Diesmal traf sie den Fettsack genau in die Stirn.

Erst jetzt roch sie, wie ekelhaft es hier in der Hütte stank, genauso wie damals und vor allem aber, nach was wohl, nach Moonshine natürlich. Besse hatte noch große Lust, dem Kerl mit dem Lauf den Schädel einzuschlagen, aber sie riss sich zusammen und hockte sich vor die Einmachgläser, in denen der Schnaps so klar lagerte, als wäre er nur Luft. Aber er hatte das Leuchten einer Reise mit der Zunge am Steuer eines T-Models. Besse wickelte ein Tuch um ein Glas und steckte es ein. Sie wäre gern fort. Sie weiß auch schon wo. Und nur ihre Schwester würde sie finden.

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"Moonshine", so haben Amerikaner ihren illegal gebrannten Schnaps genannt. Er stammte vor allem während der Prohibition in den Zwanziger Jahren aus illegalen Bretterbuden in Virginia und in den Wäldern anderer Bundesstaaten, in denen Rednecks und andere Typen zusammengezimmerte Destillen laufen ließen - oft auch unter den Augen der Polizei, wenn diese denn auf die richtige Seite gezogen war.

Monday, 10 August 2015

VIRGINIA DYER

Mit einem Knall landete das Glas auf dem Boden. Virginia Dyer klingelte gleich nach Miss Cumbercastle, beim zweiten Mal schon wesentlicher entschiedener, aber die Gute rührte sich nicht. „Sie ist manchmal ein wenig stoisch.“ Die Gentlemen von der Westküste sahen sie an, als säßen sie in irgendeinem Theaterstück. „Wenn Sie erlauben“, sagte einer, da war aber wohl nicht viel dahinter. Virginia klingelte noch einmal, dann schleuderte sie das Glöckchen entrüstet vor die Katze, die erschrocken aufsprang und aus dem Zimmer rannte. „Es soll jetzt Zeppeline geben, die es bis über den Atlantik schaffen!“, war ihr nächster Kommentar. Man könnte sich fragen, wer gerade mehr geboten bekam: die Ehefrauen, die sich die Zeit am Broadway vertrieben, oder doch eher die Gentlemen.

Unter denen, die den weiten Weg von LA nach Manhattan zurückgelegt hatten, gab es einen, der bei dem Wort „Zeppeline“ hellhörig wurde: Alfred Bust, ein lebender Beweis dafür, dass sie in Kalifornien selbst stockkonservative Männer gewähren lassen. Kaum hatte Virginia ihren Satz ausgeplaudert, zückte er einen Stapel Unterlagen hervor und legte ihn auf den Tisch. Das war schon in Ordnung so, die Herren waren schließlich der Ideen wegen hier, die junge Lady wollte investieren.

Virginia gab Bust Zeit, die zerfledderten Blätter in die Reihe zu kriegen. Aber sie konnte es schon riechen: Da vor ihr raschelte ein Bombengeschäft! Sie rutschte auf ihrem Stuhl ein Stück nach vorne, um die kleine Skizze links unten besser erkennen zu können. Dabei zog sie mit ihren Mary Janes ein paar der Scherben knirschend über das Parkett. Ach ja, die Scherben. Die mussten jetzt endlich weg, dachte sie sich und sank auf die Knie, um wenigstens die größten aus dem Weg zu sammeln. Die Gentlemen zogen prompt die Füße ein. Aber Bust blieb sich treu. Er schob mit der Schuhspitze ein ausgebüxtes Stück Glas zu ihr hin. Genau unter ihr Gesicht. Sofort stand Virginia auf und langte ihm eine. „Sie sind der letzte Dreck!“, schimpfte sie, und das konnte Miss Cumbercastle offenbar hören. Mit einem Mal stand sie in der Tür. „Schaffen sie diese Leute hier raus!“, und Miss Cumbercastle tat, was die Lady von ihr verlangte. Wie immer und ausnahmslos.

Sunday, 2 August 2015

SHANE BISHOP

Shane ließ Claire noch schnell die abrasierten Haare aus seinem Nacken fegen, dann marschierte er los, raus aus dem Haus und die Lane hoch, von wo aus er Sheffield auf den Scheitel gucken konnte und Fish und Chips wie Lachssouffle auf französischem Baguette duftete. Claire kam noch ein paar Kreuzungen mit, sie wollte sehen, ob er sie auch nicht veräppelt hatte. Aber schließlich drückte sie ihm einen Abschiedskuss auf die Wange. Es nieselte, das Licht wurde schwächer und die Autoscheinwerfer begannen, sich auf der nassen Straße zu spiegeln. Sie war für acht mit Sue und Steph verabredet und wollte los.

Im Haus der Kensingtons bellte schon der Hund. Misses Kensington öffnete. „Hunde waren aber nicht abgemacht, Ma’am!“ „Iren auch nicht!“ Die Lady strich mit der flachen Hand über seinen runden Schädel mit den roten zwei Millimetern darauf und musterte ihn. Tolle Frau, dachte sich Shane, kleiner als er, und sie hatte keinen Schiss, mit Skins Geschäfte zu machen. Immerhin ging’s um ihre Tochter. Und zu all seinem Glück konnte er von irgendwoher sogar Bronski Beat hören. Hinten im Flur sah er, wie Mister Kensington sich an einem Windsor fast das Leben nahm.

Die 20 Pfund durfte Shane sich aber erst nur ansehen. Misses Kensington bestand darauf, die Scheine in einem schneeweißen Kuvert zu verschließen und in ihre kleine Handtasche zu stecken wie sich selbst in dieses Etuikleid mit Ringelmuster. Ein konspiratives Versprechen für ihre Rückkehr, „wenn meine kleine Lucy noch leben sollte“. Dann zeigte sie ihm den Kühlschrank mit Sandwiches und einer kleinen Flasche Lager, extra für ihn, das Wohnzimmer mit der Anlage und einer Bahn aufrechtstehender, sich aneinanderschmiegender Platten von Blondie bis Percy Sledge, und rief schließlich Lucy zu ihnen herein, die Shane zur Begrüßung ein zartes Küsschen auf die Wange gab. Hörte er da etwa die Engel singen? Claire hatte ihn ausgelacht, als er ihr von seinem Babysitter-Zettel im Sainsbury’s erzählt hatte. Von draußen hupte Mister Kensington nach seiner Frau, aber Ford Sierras können keinen Schlussakkord. Der Rest ist Geschichte.

Wednesday, 15 July 2015

AMIRA MORALES

Seit sie die Halle verlassen hatten, schimpfte Louisa. Sie schimpfte und schimpfte. Sie hatte einen Messebesucher dabei erwischt, wie er mit seinem Handy versuchte, ihr unter den Rock zu filmen, und nicht nur das. Aber diesmal rauschten die Tiraden an Amira vorbei, auch wenn sie sich sicher war, dass einige dieser untersetzten Autonarren, die so untrennbar um sie herum gekreist waren wie Mimas und Titan um Saturn, bei dem Neigungswinkel ihrer iPhones bestimmt keine Whats-App-Nachrichten am Tippen waren.

Louisa schimpfte, um sich zu entspannen, etwas, das Amira in dem heißen Zug gerade überhaupt nicht gelang. Sie hatte den ganzen Tag auf zehn Zentimetern gestanden, und das in krachneuen Pumps, die sich auch jetzt nicht mit der Fingerspitze zwischen Leder und Fuß zu mehr Gnade zwingen ließen. Ihre Befreiungsversuche brachten nur den Mann ihr gegenüber dazu, sich immer wieder neue Alibibewegungen auszudenken, um einen Blick darauf zu erhaschen. Was musste das für eine Qual für ihn sein. Er sah aus, als hätte er Ticks. Amira gönnte sich den Spaß und zog einen Schuh aus, klimperte mit den Zehen, als spielte sie Bach, dehnte den Spann mal nach oben, dann nach unten, massierte mit einer Hand die Sohle ihres wirklich hübschen Fußes und schlüpfte wieder hinein; nur wenige Zentimeter von seinem Bürohosenbein entfernt. „Ist das da Blut vom Teufel? Dein Nagellack? Hast du den aus der Hölle? Dios mio, ist der dunkel. Süße, der macht so … rrrrrrh“, konstatierte Louisa, während der Zug in den Bahnhof von San Pedro einrollte. Er hielt und spuckte eine junge Frau aus, deren Cellulitis unter den ausgefransten Hot Pants Amira an den Mond und seine Mare erinnerte.

Kaum war sie zuhause, zog sie alles aus bis auf Top und Unterhose und setzte sich mit einem großen Glas eiskaltes Wasser in den Schein ihres Laptops. Im Radio sang Goerne den Leiermann aus Schuberts Winterreise, während sie mit der Maus die interaktive Darstellung drehte und zum Mare Orientale kam, dem jüngsten aller Mare und dem letzten in ihrem Projekt, für das der Lehrstuhl der Astrophysik tief in die Tasche greifen wollte. Doch bevor Amira den entscheidenden Schritt hin zu ihrem Doktortitel und weg von den Messejobs machte, betrachtete sie die Ebene, den wunderschönen schwarzen Fleck, in den sie sich verliebt hatte, und stellte sich vor - barfuß auf dem Eise - wie sich Mondstaub zwischen ihren glühenden Zehen wundersam kühl und zart nach oben drückt und alles bis zu den Knöcheln umschließt.

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Nach "barfuß auf dem Eise" aus dem "Leiermann" in Schuberts "Winterreise". Wer jetzt behauptet, auf dem Mond gäbe es kein Eis, dem würde Amira entgegnen, dass sich beispielsweise der helle Rand des Shackleton-Kraters am Südpol des Mondes, der seit drei Milliadren Jahren in der Finternis liegt, mit einer Eisschicht erklären ließe. Doch diese Eisschicht ist höchstens ein Tausendstel Millimeter dünn und besteht maximal zu einem Fünftel aus Wasser.

Sunday, 5 July 2015

ANA LOPEZ

Dass ihrem Sohn das Hemd gefiel, erfüllte sie mit Stolz. Das war ihr mindestens genauso viel wert wie das herabgesetzte Prada-Kostüm aus der kleinen Boutique in Juarez, deren Existenz sie ihren besten Freundinnen verschwieg. Na ja, vielleicht nicht ganz so viel. Aber Ana genoss das Funkeln in Jorges Auges, das er mit aller Gewalt zu unterdrücken versuchte. Mehr konnte sie von einem 18-Jährigen in Begleitung seiner Mutter vor einer jungen, heißen Verkäuferin als Zustimmung nicht erwarten.

Als sie wieder auf die Straße kamen, sah Ana, wie sich zwei Polizisten näherten. Sie legte einen Zahn zu. Ihr SUV stand am Bürgersteig direkt vor dem Laden, aber er war doch zu weit weg. Jorge hatte bereits Blickkontakt mit den beiden Polizisten aufgenommen, und die nutzen ihre Chance. 

„Sie haben ihn gleich mitgenommen!“ Raúl winkte die Sekretärin nach draußen, während seine Frau mit der flachen Hand hysterisch auf seinen Tisch einschlug. „Sie werden ihn verheizen, Raúl, tu doch was. Tu was!“ Raúl tat auch was. Er stand auf und schenkte seiner Frau einen Tequila ein. Das Gleiche werde er nach der Cena mit seinem Sohn tun, um mit ihm wie mit einem Mann zu reden. Raúl summte leise. Ihm ging eine Zeile durch den Kopf: „Piensa, oh patria querida, que el cielo un soldado en cada hijo te dio“.

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Im April 2015 sind bei einem Anschlag im mexikanischen Bundesstaat Jalisco 15 Polizisten gestorben. Im Mai ist nahe Michoacán eine Patrouille der Bundespolizei angegriffen worden. Nach stundenlangen Gefechten waren 37 Angreifer und zwei Polizisten tot. Insgesamt forderte der mexikanische Banden- und Drogenkrieg seit 2006 weit mehr als 80 000 Opfer. Die Polizei rekrutiert junge Männer, wo sie sie finden kann.

"Piensa, oh patria querida..." (sp., aus der mexikanischen Nationalhymne) - "Denke daran, geliebtes Vaterland, dass der Himmel dir mit jedem Sohn einen Soldaten gegeben hat."

cena (sp.) - Abendessen

Thursday, 2 July 2015

BURT FILLIGAN

Mary Lancaster wartete, bis die Sonne das Weite gesucht hatte. Dann schlüpfte sie aus dem Fenster und schlich sich in den Wald, wo sie mit Pete verabredet war, Marys Freund. Als man sie fand, tanzten die Glühwürmchen über ihrem zarten Busen. Es war der Sommer, in dem der Weizen Feuer fing und die Frau des Bürgermeisters den Verstand verlor.

Im Oktober hatte man endlich einen Sündenbock gefunden. Der Mann hieß Burt Filligan, ein Herumtreiber von 33 Jahren, der einen Führerschein besaß und genau 45 Dollar und 32 Pence, die man ihm aus der Hosentasche zog und demonstrativ in den Opferstock steckte. Man zwang ihn, dabei zuzusehen, so als müsste er sich bei diesem Anblick wie der Teufel unter heiligen Krämpfen winden.

Mister Filligan hatte immer beteuert, nicht zu wissen, wer Mary war. Aber was soll man machen, wenn dem halben Gericht die Pantoffeln zu groß sind. Zwei Jahre zuvor hatte Burt am Fluss einen Nachfahren von Sklaven getroffen, auch ein Herumtreiber, und mit ihm intensive Gespräch geführt, während vor ihnen das Wasser plätscherte und die Zikaden sangen. Es ging um wichtige Dinge, um Dinge, von denen die Leute keine Ahnung hatten, die zum Schluss über sein Schicksal bestimmten. Es war Inspiration für ein ganzes Jahr, für ein ganzes Leben. Was aus dem Schwarzen wurde, ist nicht bekannt.