Thursday, 22 October 2015

FRANCINE BEAUMONT

Es war schon der dritte Termin in dieser Woche, den sich Francine Beaumont bei Doktor Muller hat geben lassen, mal wieder ohne der Sprechstundenhilfe am Telefon anzudeuten, worum es ihr denn ginge. Aber das würde doch dabei helfen, schon eventuell wichtige Vorkehrungen zu treffen. Nein, Francine wollte sich um ihre Vorkehrungen zuhause schon selbst kümmern. Das verriet sie aber natürlich nicht.

Als der Doktor auf die nächste Karteikarte sah und Miss Beaumonts Namen überrascht vor sich hinplapperte, anstatt ihn auszurufen, überquerte Francine schon die Schwelle zu seinem Behandlungszimmer. „Herr Doktor, ich fühle mich nicht gut“, sagte sie und stieg von den hohen Absätzen herunter, um sich aus ihrem engen Kleid zu befreien. Davon sollte Doktor Muller beim Abendessen seiner Frau erzählen, nachdem die Kinder noch einmal zur Eisenbahn in den Keller verschwunden waren. Und – ohne Francine Beaumonts üppigen, gesunden (!), schwarzen Busen zu erwähnen, der stets aus wohl duftender, hübsch arrangierter Spitze zu hüpfen pflegte.

Misses Muller, so weiß wie ihr Mann nach einem der langen Michigan-Winter, hörte ganz genau zu, auch wenn sie so tat, als wäre sie taub. Am nächsten Tag fuhr sie nach Downtown zu der Adresse, die ihr Jeannie vom Praxisempfang aus den Karteikarten herausgesucht hatte. Zum Glück hatte Francine an diesem Morgen keinen Arzttermin und öffnete die Tür. Es war der einzige Moment in ihrem Leben, an dem beide genau das Gleiche dachten: „Oh mein Gott, wie sieht die denn aus?“

Monday, 19 October 2015

JEAN GIROLLE

Catherine kam mit schwarzen Fäden an den Fingern ins Wohnzimmer zurück und streifte sie in die Holzkiste ab. „Hast Du schon mal in die Ecken gesehen?“ Sie drehte ihren Kopf zu Albert, aber der war im Sessel eingeschlafen. Das hatte Jean noch gar nicht bemerkt. Es hatte nichts zu heißen, wenn sie eine Weile zu zweit in einem Raum saßen und nichts miteinander redeten.

Mit Margot, Catherines Mutter, war das anders. Es gab etwas, nach dem man, wenn man es kennt, unwillkürlich alles neu deuten muss. Den Gesichtsausdruck, mit dem Margot Jean empfing, als er aus dem Haus kam, um ihr von den Spinnweben zu erzählen. Wie sie die Beeren vom Strauch zupfte, und sagte, sie müsse das genau so tun, wie sie es tat. „Sonst wird er böse!“. Oder wie sie die Beeren zerdrückte. 

Nachdem eine Weile vergangen war, ohne dass Jean wiederkehrte, rief Catherine seinen Namen.  Aber sie bekam keine Antwort. Dafür kam Margot mit rot verschmierten Händen durch die Verandatür und strahlte ihrer einzigen Tochter entgegen. „Mein kleines Mädchen. Hast Du schon von den Mirabellenplätzchen gekostet?“ Sie zeigte auf den Tisch. Catherine sah sie irritiert an. „Welche Mirabellenplätzchen? Wo sind denn hier Mirabellenplätzchen?“, fragte sie und sah sich um. Aber da war nichts. Und trotzdem schlief sie sofort ein, kaum dass sie und Jean im Gästebett lagen. Jean dagegen blieb noch lange wach. Auch wenn er die Tür zu ihrem Zimmer abgeschlossen hatte, bekam er es nach diesem Tag doch mit der Angst zu tun. Von draußen hörte er den Beerenstrauch rascheln, und unten im Flur schien jemand zu sein.

Tuesday, 29 September 2015

SUSANA PIRES MONREAL

Am 24. Mai 2008 ist im Umland von Ciudad de Juarez, in der Wüste von Chihuahua, etwas sehr Merkwürdiges geschehen. Aktivistinnen, die mit Stöcken nach Gräbern im knochentrockenen Boden stocherten, stießen auf dem Campo Algodonero auf Susana Pires Monreal, die in ihrem weißen Kittel da stand, als würde sie auf den Bus zur Maquiladora warten. Die Gruppe musste sich jetzt erst ein mal sammeln: Susana Pires Monreal war seit fast genau vier Jahren spurlos verschwunden.

Das Ereignis versetzte das Personal der neuen Sonderstaatsanwaltschaft für Gewalt gegen Frauen in Ciudad Juarez in helle Aufregung. Die Helferinnen in der Casa Amiga schlossen auf Anweisung die Läden an den Fenstern und schalteten die Lampen an, die Susanas Schatten auf die Madonna am Eingang warfen, als sie sie hereinführten. Niemand sollte von ihrer Rückkehr erfahren, auch nicht die Polizei. Aber das stellte sich gleich schon am nächsten Tag als unmöglich heraus, als Mira Fuentes quasi an gleicher Stelle auftauchte. Ganz plötzlich, so wie Susana. Mira war bereits seit sechseinhalb Jahren verschwunden gewesen.

Und so kamen immer mehr Frauen zurück, die man als Opfer des Feminicidio geglaubt hatte. Am Ende waren es acht. Sie waren einfach plötzlich wieder da. Nur woher sie kamen, war ein Rätsel. Sie redeten nicht darüber, und wenn Aktivistinnen oder andere versuchten, ihre Rückkehr zu beobachten, blieb die nächste aus. Susana Pires Monreal war wunderschön. Und sie war die erste, die von den Zurückgekehrten ein zweites Mal verschwand.

-
Diese Geschichte ist natürlich erfunden. Aber sie gibt die Hilflosigkeit derer wieder, die gegen den Feminicidio kämpfen. Auch die neue Sonderstaatsanwaltschaft für Gewalt gegen Frauen und das Frauenhaus Casa Amiga, das oft wütende Männer anlockt, können das Verschwinden Hunderter junger Frauen nicht verhindern. Notrufe nutzen nichts, die Polizei bleibt meist fern. Ohnehin ist es ein offenes Geheimnis, dass wenigstens einzelne Polizisten, vielleicht sogar Politiker mit den Drogenkartellen gemeinsame Sache machen. Und so werden Frauen zu Hause geschlagen, entführt, vergewaltigt, ermordet, verscharrt, manche von ihnen enthauptet und verstümmelt.

Der Name Monreal steht in Erinnerung an Esmeralda Herrera Monreal, eines der berühmtesten Opfer. Sie ist am 29. Oktober 2001 mit 15 Jahren verschwunden und am 7. November ermordet im Campo Algodonero, einem Baumwollfeld, aufgefunden worden. Wenig später kamen hier sieben weitere ermordete Frauen hinzu. Und das in Juarez, wo Jahre zuvor vor allem Frauen in den Maquiladoras angestellt wurden. Sie galten als zuverlässiger als die betrunkenen und gewaltbereiten Männer. Juarez war damals Vorbild, hatten damit doch auch schlechter ausgebildete Frauen die Möglichkeit, das eigene Leben selbst zu gestalten.

Tuesday, 15 September 2015

BESSE BONE

Ist es nicht eigenartig, dass der fette Jim sich jahrelang vor der Polizei verstecken konnte, aber Besse Bone es mit einem einzigen Spaziergang gelang, einem Spaziergang, den selbst Grandpa Pete geschaffte hätte, die wirklich schäbige Bretterbude im Wald irgendwo in Virginia zu finden, ich sag jetzt nicht wo, in der die Destille klapperte, als wäre sie der Zinnmann aus dem Wizard von Oz? Ist es nicht eigenartig? Der Redneck verstand die Welt nicht mehr, als sie plötzlich in der Tür stand und eine Winnie auf ihn richtete, dieses zarte Geschöpf.

Für Besse spielte es keine Rolle, winselt der Scheißkerl um Gnade und bleibt dann am Leben oder macht er auf stur und dann ab in den Sarg. Sie bekam den Abzug nicht zu sich gezogen, das war der einzige Grund, warum es noch nicht knallte. Jim schnappte sich eine Pfanne und schlug sie gegen den Lauf. Wumm, der Schuss ging schnurstracks durch das Dach und jagte draußen irgendwelchen Tieren einen mächtigen Schrecken ein. Aber Besse fing sich und schoss nochmal. Diesmal traf sie den Fettsack genau in die Stirn.

Erst jetzt roch sie, wie ekelhaft es hier in der Hütte stank, genauso wie damals und vor allem aber, nach was wohl, nach Moonshine natürlich. Besse hatte noch große Lust, dem Kerl mit dem Lauf den Schädel einzuschlagen, aber sie riss sich zusammen und hockte sich vor die Einmachgläser, in denen der Schnaps so klar lagerte, als wäre er nur Luft. Aber er hatte das Leuchten einer Reise mit der Zunge am Steuer eines T-Models. Besse wickelte ein Tuch um ein Glas und steckte es ein. Sie wäre gern fort. Sie weiß auch schon wo. Und nur ihre Schwester würde sie finden.

-
"Moonshine", so haben Amerikaner ihren illegal gebrannten Schnaps genannt. Er stammte vor allem während der Prohibition in den Zwanziger Jahren aus illegalen Bretterbuden in Virginia und in den Wäldern anderer Bundesstaaten, in denen Rednecks und andere Typen zusammengezimmerte Destillen laufen ließen - oft auch unter den Augen der Polizei, wenn diese denn auf die richtige Seite gezogen war.

Monday, 10 August 2015

VIRGINIA DYER

Mit einem Knall landete das Glas auf dem Boden. Virginia Dyer klingelte gleich nach Miss Cumbercastle, beim zweiten Mal schon wesentlicher entschiedener, aber die Gute rührte sich nicht. „Sie ist manchmal ein wenig stoisch.“ Die Gentlemen von der Westküste sahen sie an, als säßen sie in irgendeinem Theaterstück. „Wenn Sie erlauben“, sagte einer, da war aber wohl nicht viel dahinter. Virginia klingelte noch einmal, dann schleuderte sie das Glöckchen entrüstet vor die Katze, die erschrocken aufsprang und aus dem Zimmer rannte. „Es soll jetzt Zeppeline geben, die es bis über den Atlantik schaffen!“, war ihr nächster Kommentar. Man könnte sich fragen, wer gerade mehr geboten bekam: die Ehefrauen, die sich die Zeit am Broadway vertrieben, oder doch eher die Gentlemen.

Unter denen, die den weiten Weg von LA nach Manhattan zurückgelegt hatten, gab es einen, der bei dem Wort „Zeppeline“ hellhörig wurde: Alfred Bust, ein lebender Beweis dafür, dass sie in Kalifornien selbst stockkonservative Männer gewähren lassen. Kaum hatte Virginia ihren Satz ausgeplaudert, zückte er einen Stapel Unterlagen hervor und legte ihn auf den Tisch. Das war schon in Ordnung so, die Herren waren schließlich der Ideen wegen hier, die junge Lady wollte investieren.

Virginia gab Bust Zeit, die zerfledderten Blätter in die Reihe zu kriegen. Aber sie konnte es schon riechen: Da vor ihr raschelte ein Bombengeschäft! Sie rutschte auf ihrem Stuhl ein Stück nach vorne, um die kleine Skizze links unten besser erkennen zu können. Dabei zog sie mit ihren Mary Janes ein paar der Scherben knirschend über das Parkett. Ach ja, die Scherben. Die mussten jetzt endlich weg, dachte sie sich und sank auf die Knie, um wenigstens die größten aus dem Weg zu sammeln. Die Gentlemen zogen prompt die Füße ein. Aber Bust blieb sich treu. Er schob mit der Schuhspitze ein ausgebüxtes Stück Glas zu ihr hin. Genau unter ihr Gesicht. Sofort stand Virginia auf und langte ihm eine. „Sie sind der letzte Dreck!“, schimpfte sie, und das konnte Miss Cumbercastle offenbar hören. Mit einem Mal stand sie in der Tür. „Schaffen sie diese Leute hier raus!“, und Miss Cumbercastle tat, was die Lady von ihr verlangte. Wie immer und ausnahmslos.

Sunday, 2 August 2015

SHANE BISHOP

Shane ließ Claire noch schnell die abrasierten Haare aus seinem Nacken fegen, dann marschierte er los, raus aus dem Haus und die Lane hoch, von wo aus er Sheffield auf den Scheitel gucken konnte und Fish und Chips wie Lachssouffle auf französischem Baguette duftete. Claire kam noch ein paar Kreuzungen mit, sie wollte sehen, ob er sie auch nicht veräppelt hatte. Aber schließlich drückte sie ihm einen Abschiedskuss auf die Wange. Es nieselte, das Licht wurde schwächer und die Autoscheinwerfer begannen, sich auf der nassen Straße zu spiegeln. Sie war für acht mit Sue und Steph verabredet und wollte los.

Im Haus der Kensingtons bellte schon der Hund. Misses Kensington öffnete. „Hunde waren aber nicht abgemacht, Ma’am!“ „Iren auch nicht!“ Die Lady strich mit der flachen Hand über seinen runden Schädel mit den roten zwei Millimetern darauf und musterte ihn. Tolle Frau, dachte sich Shane, kleiner als er, und sie hatte keinen Schiss, mit Skins Geschäfte zu machen. Immerhin ging’s um ihre Tochter. Und zu all seinem Glück konnte er von irgendwoher sogar Bronski Beat hören. Hinten im Flur sah er, wie Mister Kensington sich an einem Windsor fast das Leben nahm.

Die 20 Pfund durfte Shane sich aber erst nur ansehen. Misses Kensington bestand darauf, die Scheine in einem schneeweißen Kuvert zu verschließen und in ihre kleine Handtasche zu stecken wie sich selbst in dieses Etuikleid mit Ringelmuster. Ein konspiratives Versprechen für ihre Rückkehr, „wenn meine kleine Lucy noch leben sollte“. Dann zeigte sie ihm den Kühlschrank mit Sandwiches und einer kleinen Flasche Lager, extra für ihn, das Wohnzimmer mit der Anlage und einer Bahn aufrechtstehender, sich aneinanderschmiegender Platten von Blondie bis Percy Sledge, und rief schließlich Lucy zu ihnen herein, die Shane zur Begrüßung ein zartes Küsschen auf die Wange gab. Hörte er da etwa die Engel singen? Claire hatte ihn ausgelacht, als er ihr von seinem Babysitter-Zettel im Sainsbury’s erzählt hatte. Von draußen hupte Mister Kensington nach seiner Frau, aber Ford Sierras können keinen Schlussakkord. Der Rest ist Geschichte.