Friday, 11 December 2015

GEORGE SUN

George nahm das Ding in die Hand und sah es sich genauer an. „Was soll das nochmal sein?“, fragte er, und der Mann vor ihm nuschelte ein paar Laute, für dessen Übersetzung der Transduktor knapp drei Sekunden brauchte. Dann sagte der Apparat es wieder, „eine Blume“, und der Einheimische nickte, als hätte er es verstanden.

Es war keine Blume, das Ding war metallisch. Offensichtlich konnte der Transduktor die Sprache des Außerirdischen nicht richtig fassen. George setzte eine entsprechende Nachricht an die Dundee ab, die im Orbit kreiste und das Geschehen aus der Ferne verfolgte. „Es kann sein, dass alle auditiven Daten verfälscht sind“, gab er durch und erhielt vom Schiff die Order, dieses Ding sofort wieder aus der Hand zu legen. Seine Fingersensoren meldeten einen erhöhten Wert an Berkelium an der Haut.

Im selben Moment fand George sich in einer transparenten Kapsel im Weltall wieder. Über seinem Kopf und unter seinen Füßen funkelten die Sterne, vom Planeten und vom Schiff aber fehlte jede Spur. Im Spiegel des Glases sah er das Lämpchen des Transduktors blinken. Der Apparat schien an einer Übersetzung zu arbeiten und schaltete schließlich auf grün. Was folgte, waren lang anhaltende Töne mit leichten, aber bedeutsamen Irritationen, die sich immer wieder erneuerten. Und immer wieder schnitt es schreiend hinein. Erst waren es Instrumente, dann waren es menschliche Stimmen. Der Transduktor fand nichts Besseres unter seinen irdischen Dateien, um das zu übersetzen, was die Fremden von seinem Bediener verlangten. „Anthracite Fields“, Julia Wolfe 2014, war das, was George in seiner Kugel zu hören bekam. Kein artikulierter Satz hätte es genauer treffen können, die Maschine folgte ihrem Programm. Aber George verstand nichts von Neuer Musik von vor 250 Jahren.

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http://juliawolfemusic.com/music/anthracite-fields
Julia Wolfe hat mit "Anthracite Fields" 2015 den Pulitzer Preis in Music verliehen bekommen. George Sun wusste nicht einmal, dass es auch für Musik einen Pulitzer Preis gab. Es ist ein Irrglaube, dass es im Weltraum nur Techniker braucht. 

Friday, 27 November 2015

EMILY ANDERSON

Bohnen, Emily hatte ein paar Dosen Bohnen gefunden, sie konnte es kaum glauben. Dunkle Schokolade und Marmelade, "Autumn Harvest". Was für ein Luxus. Die Mindesthaltbarkeit der Hersheys war erst seit zwei Jahren abgelaufen, produziert kurz vor dem Zusammenbruch. Gott verdammt, sie war in einem Haus, das noch nicht geplündert war. Emily überkam die Freude so heftig, dass die sich fast wie eine Krankheit anfühlte. Aber sie hatte gelernt, ruhig zu bleiben gegenüber all denen, die sie jetzt vielleicht hören konnten.

Außerdem musste sie in Erwägung ziehen, dass die Kidneys, die Schokolade, die Cherry Republic und die Packung Detroit Bold (sie hatte Kaffee gefunden!) erst seit kurzem hier lagerten. Beute von jemand anderes vielleicht. Und dabei ging es ihr sicher nicht darum, dass sie es ihm wegnehmen musste. Es ging darum, dass derjenige jeden Augenblick in der Tür stehen und das alles hier bis aufs Blut verteidigten konnte. Sie war so müde.

Sie packte die Sachen ein und sah sich noch nach einer Karte um. Seit einigen Tagen irrte sie ohne Orientierung umher. In dieser ganzen Zeit hatte sie nur einen einzigen Menschen getroffen, einen Mann, den sie am Ende hatte erschießen müssen. Mit einem Michigan-Reiseführer in der Tasche und ihrem Gewehr in der Hand verließ sie schließlich das Haus, gerade noch rechtzeitig um zu sehen, wie oben, am Ende der Straße, eine kleine Gruppe von vermummten Leuten mit Macheten hinter einem ausgebrannten Bungalow verschwand. Sie hatten sie noch nicht gesehen.

Friday, 20 November 2015

RAHI el-SAWI

Die saudischen Kampfjets kamen zu spät. Nachdem die Schergen des Islamischen Staates Mekka erobert hatten, stellten sie zwei kleine Camcorder auf und filmten sich dabei, wie sie mit einem Vorschlaghammer auf die Kaaba eindroschen. Die Wahhabiten schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, eine Geste, die in Windeseile um die ganze Welt ging. In Europa und sogar in den USA fanden sich Tausende Menschen in dieser Haltung auf Demonstrationen gegen Gewalt ein. Es war ein Symbol dafür, dass der Terror durch den Islamischen Staat nichts, aber auch rein gar nichts, mit dem Islam zu tun haben solle.

Der IS schickte seinem Eroberungsfeldzug eine Warnung voraus, der der saudische König nur mediale Drohgebärden folgen ließ. Jetzt blieb es Sache islamischer Gelehrter, durch die Fernseher im Land zu sprechen und zu erklären, dass die Hadsch und das Berühren der Kaaba sehr wohl heilig und im Sinne des Propheten seien. Sie mussten das aufgebrachte Volk beruhigen. Mehr passierte vorerst nicht, der IS war schließlich nicht shiitisch. Die Terrormiliz hatte das Anbeten eines Steines als Gotteslästerung bezeichnet, auf die als Strafe nur der Tod folgen könne, ihn zerstört, und das war's.

„So ein Unsinn“, sagte die Lehrerin zu Rahi und hielt ihr stoisch das Kopftuch hin. Die Ausrede mit der Polyester-Allergie hatte nicht geholfen. Dafür hatte sich der Gesichtsausdruck der Lehrerin verändert, die jetzt noch viel verknöcherter als sonst Mohammeds Gesetze zitierte. Das Gesicht einer Frau, die innerhalb der Mauern alles bestimmte, sich außerhalb aber hinter billigem Stoff versteckte, hinter Stoff, der an so vielem Schuld sei, wie es plötzlich aus Rahi herausbrüllte. „Ihr könnt den IS vielleicht besiegen, aber das da macht es, dass es immer wieder einen neuen geben wird. Und daran wird sich nie etwas ändern!“

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"Rahi" bedeutet Frühling.

Thursday, 12 November 2015

BORIS ALJENKO

Nadjinka rieb sich ihre Füße unter der Wolldecke warm. „Chinesen schmatzen, wenn sie essen“, sagte sie, ohne es jemals selbst erlebt zu haben. Sie hatte Russland noch nie verlassen und noch nie einen Chinesen gesehen, bevor sich in Surgut ihre Kabinentür geöffnet hatte und zwei Geschäftsmänner aus der Mandschurei hereinkamen, dampfendheiße Nudelsuppe in den Schüsseln. Boris Aljenko leckte hinter seinen geschlossenen Lippen über die Schneidezähne und sah in die tief verschneite Taiga hinaus, in die sich der Zug langsam vortastete. „Nadjinka, Nadjinka“, dachte er, aber die Chinesen schienen offenbar nichts verstanden zu haben.

Sie saßen nur da, die Schüsseln auf ihrem Schoß, und nahmen von Boris und seiner Frau keine Notiz. Nach einer Weile sagte der eine etwas, so dass der andere laut auflachen musste. Da hatten sie gerade die letzten Häuser passiert, vor deren Türen die Fußspuren im Schnee noch nach Surgut wiesen. Sie waren noch soweit von Nadym entfernt wie der Sommer von diesem Ort, und Boris teilte mit Nadjinka zunehmend den Missmut, über einen halben Tag hinweg mit diesen beiden fremden Gestalten ihr kleines Abteil teilen zu müssen. So sah es doch nun aus, oder etwa nicht, „Sie fahren doch nach Nadym?“, fragte Boris den Chinesen ihm schräg gegenüber. Der aber reagierte nicht.

„Fahren Sie nicht nach Nadym?“, fragte Boris ihn erneut. Auch Nadjinka sah sich jetzt nach ihnen um, und diesmal schauten die Chinesen auf. Aber dann stand plötzlich der Schaffner in der Kabinentür. Seine Fingerknöchel drückten sich weiß aus seiner Hand, mit der er die Rolltür in ihrer Position hielt. „Es tut mir leid, wenn ich Ihnen das sagen muss, aber wir werden nicht viel weiter als Kogalym fahren können.“ Der Schnee habe weiter im Norden die Gleise verschluckt. Da gäbe es kein hin und zurück. Kogalym also. Eine Woche, bis der Zug es erneut versucht. Und die Chinesen? „Nadym, Nadym“, sie grinsten Boris an und zeigten auf sich selbst.

Thursday, 22 October 2015

FRANCINE BEAUMONT

Es war schon der dritte Termin in dieser Woche, den sich Francine Beaumont bei Doktor Muller hat geben lassen, mal wieder ohne der Sprechstundenhilfe am Telefon anzudeuten, worum es ihr denn ginge. Aber das würde doch dabei helfen, schon eventuell wichtige Vorkehrungen zu treffen. Nein, Francine wollte sich um ihre Vorkehrungen zuhause schon selbst kümmern. Das verriet sie aber natürlich nicht.

Als der Doktor auf die nächste Karteikarte sah und Miss Beaumonts Namen überrascht vor sich hinplapperte, anstatt ihn auszurufen, überquerte Francine schon die Schwelle zu seinem Behandlungszimmer. „Herr Doktor, ich fühle mich nicht gut“, sagte sie und stieg von den hohen Absätzen herunter, um sich aus ihrem engen Kleid zu befreien. Davon sollte Doktor Muller beim Abendessen seiner Frau erzählen, nachdem die Kinder noch einmal zur Eisenbahn in den Keller verschwunden waren. Und – ohne Francine Beaumonts üppigen, gesunden (!), schwarzen Busen zu erwähnen, der stets aus wohl duftender, hübsch arrangierter Spitze zu hüpfen pflegte.

Misses Muller, so weiß wie ihr Mann nach einem der langen Michigan-Winter, hörte ganz genau zu, auch wenn sie so tat, als wäre sie taub. Am nächsten Tag fuhr sie nach Downtown zu der Adresse, die ihr Jeannie vom Praxisempfang aus den Karteikarten herausgesucht hatte. Zum Glück hatte Francine an diesem Morgen keinen Arzttermin und öffnete die Tür. Es war der einzige Moment in ihrem Leben, an dem beide genau das Gleiche dachten: „Oh mein Gott, wie sieht die denn aus?“

Monday, 19 October 2015

JEAN GIROLLE

Catherine kam mit schwarzen Fäden an den Fingern ins Wohnzimmer zurück und streifte sie in die Holzkiste ab. „Hast Du schon mal in die Ecken gesehen?“ Sie drehte ihren Kopf zu Albert, aber der war im Sessel eingeschlafen. Das hatte Jean noch gar nicht bemerkt. Es hatte nichts zu heißen, wenn sie eine Weile zu zweit in einem Raum saßen und nichts miteinander redeten.

Mit Margot, Catherines Mutter, war das anders. Es gab etwas, nach dem man, wenn man es kennt, unwillkürlich alles neu deuten muss. Den Gesichtsausdruck, mit dem Margot Jean empfing, als er aus dem Haus kam, um ihr von den Spinnweben zu erzählen. Wie sie die Beeren vom Strauch zupfte, und sagte, sie müsse das genau so tun, wie sie es tat. „Sonst wird er böse!“. Oder wie sie die Beeren zerdrückte. 

Nachdem eine Weile vergangen war, ohne dass Jean wiederkehrte, rief Catherine seinen Namen.  Aber sie bekam keine Antwort. Dafür kam Margot mit rot verschmierten Händen durch die Verandatür und strahlte ihrer einzigen Tochter entgegen. „Mein kleines Mädchen. Hast Du schon von den Mirabellenplätzchen gekostet?“ Sie zeigte auf den Tisch. Catherine sah sie irritiert an. „Welche Mirabellenplätzchen? Wo sind denn hier Mirabellenplätzchen?“, fragte sie und sah sich um. Aber da war nichts. Und trotzdem schlief sie sofort ein, kaum dass sie und Jean im Gästebett lagen. Jean dagegen blieb noch lange wach. Auch wenn er die Tür zu ihrem Zimmer abgeschlossen hatte, bekam er es nach diesem Tag doch mit der Angst zu tun. Von draußen hörte er den Beerenstrauch rascheln, und unten im Flur schien jemand zu sein.

Tuesday, 29 September 2015

SUSANA PIRES MONREAL

Am 24. Mai 2008 ist im Umland von Ciudad de Juarez, in der Wüste von Chihuahua, etwas sehr Merkwürdiges geschehen. Aktivistinnen, die mit Stöcken nach Gräbern im knochentrockenen Boden stocherten, stießen auf dem Campo Algodonero auf Susana Pires Monreal, die in ihrem weißen Kittel da stand, als würde sie auf den Bus zur Maquiladora warten. Die Gruppe musste sich jetzt erst ein mal sammeln: Susana Pires Monreal war seit fast genau vier Jahren spurlos verschwunden.

Das Ereignis versetzte das Personal der neuen Sonderstaatsanwaltschaft für Gewalt gegen Frauen in Ciudad Juarez in helle Aufregung. Die Helferinnen in der Casa Amiga schlossen auf Anweisung die Läden an den Fenstern und schalteten die Lampen an, die Susanas Schatten auf die Madonna am Eingang warfen, als sie sie hereinführten. Niemand sollte von ihrer Rückkehr erfahren, auch nicht die Polizei. Aber das stellte sich gleich schon am nächsten Tag als unmöglich heraus, als Mira Fuentes quasi an gleicher Stelle auftauchte. Ganz plötzlich, so wie Susana. Mira war bereits seit sechseinhalb Jahren verschwunden gewesen.

Und so kamen immer mehr Frauen zurück, die man als Opfer des Feminicidio geglaubt hatte. Am Ende waren es acht. Sie waren einfach plötzlich wieder da. Nur woher sie kamen, war ein Rätsel. Sie redeten nicht darüber, und wenn Aktivistinnen oder andere versuchten, ihre Rückkehr zu beobachten, blieb die nächste aus. Susana Pires Monreal war wunderschön. Und sie war die erste, die von den Zurückgekehrten ein zweites Mal verschwand.

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Diese Geschichte ist natürlich erfunden. Aber sie gibt die Hilflosigkeit derer wieder, die gegen den Feminicidio kämpfen. Auch die neue Sonderstaatsanwaltschaft für Gewalt gegen Frauen und das Frauenhaus Casa Amiga, das oft wütende Männer anlockt, können das Verschwinden Hunderter junger Frauen nicht verhindern. Notrufe nutzen nichts, die Polizei bleibt meist fern. Ohnehin ist es ein offenes Geheimnis, dass wenigstens einzelne Polizisten, vielleicht sogar Politiker mit den Drogenkartellen gemeinsame Sache machen. Und so werden Frauen zu Hause geschlagen, entführt, vergewaltigt, ermordet, verscharrt, manche von ihnen enthauptet und verstümmelt.

Der Name Monreal steht in Erinnerung an Esmeralda Herrera Monreal, eines der berühmtesten Opfer. Sie ist am 29. Oktober 2001 mit 15 Jahren verschwunden und am 7. November ermordet im Campo Algodonero, einem Baumwollfeld, aufgefunden worden. Wenig später kamen hier sieben weitere ermordete Frauen hinzu. Und das in Juarez, wo Jahre zuvor vor allem Frauen in den Maquiladoras angestellt wurden. Sie galten als zuverlässiger als die betrunkenen und gewaltbereiten Männer. Juarez war damals Vorbild, hatten damit doch auch schlechter ausgebildete Frauen die Möglichkeit, das eigene Leben selbst zu gestalten.