Wednesday 15 July 2015

AMIRA MORALES

Seit sie die Halle verlassen hatten, schimpfte Louisa. Sie schimpfte und schimpfte. Sie hatte einen Messebesucher dabei erwischt, wie er mit seinem Handy versuchte, ihr unter den Rock zu filmen, und nicht nur das. Aber diesmal rauschten die Tiraden an Amira vorbei, auch wenn sie sich sicher war, dass einige dieser untersetzten Autonarren, die so untrennbar um sie herum gekreist waren wie Mimas und Titan um Saturn, bei dem Neigungswinkel ihrer iPhones bestimmt keine Whats-App-Nachrichten am Tippen waren.

Louisa schimpfte, um sich zu entspannen, etwas, das Amira in dem heißen Zug gerade überhaupt nicht gelang. Sie hatte den ganzen Tag auf zehn Zentimetern gestanden, und das in krachneuen Pumps, die sich auch jetzt nicht mit der Fingerspitze zwischen Leder und Fuß zu mehr Gnade zwingen ließen. Ihre Befreiungsversuche brachten nur den Mann ihr gegenüber dazu, sich immer wieder neue Alibibewegungen auszudenken, um einen Blick darauf zu erhaschen. Was musste das für eine Qual für ihn sein. Er sah aus, als hätte er Ticks. Amira gönnte sich den Spaß und zog einen Schuh aus, klimperte mit den Zehen, als spielte sie Bach, dehnte den Spann mal nach oben, dann nach unten, massierte mit einer Hand die Sohle ihres wirklich hübschen Fußes und schlüpfte wieder hinein; nur wenige Zentimeter von seinem Bürohosenbein entfernt. „Ist das da Blut vom Teufel? Dein Nagellack? Hast du den aus der Hölle? Dios mio, ist der dunkel. Süße, der macht so … rrrrrrh“, konstatierte Louisa, während der Zug in den Bahnhof von San Pedro einrollte. Er hielt und spuckte eine junge Frau aus, deren Cellulitis unter den ausgefransten Hot Pants Amira an den Mond und seine Mare erinnerte.

Kaum war sie zuhause, zog sie alles aus bis auf Top und Unterhose und setzte sich mit einem großen Glas eiskaltes Wasser in den Schein ihres Laptops. Im Radio sang Goerne den Leiermann aus Schuberts Winterreise, während sie mit der Maus die interaktive Darstellung drehte und zum Mare Orientale kam, dem jüngsten aller Mare und dem letzten in ihrem Projekt, für das der Lehrstuhl der Astrophysik tief in die Tasche greifen wollte. Doch bevor Amira den entscheidenden Schritt hin zu ihrem Doktortitel und weg von den Messejobs machte, betrachtete sie die Ebene, den wunderschönen schwarzen Fleck, in den sie sich verliebt hatte, und stellte sich vor - barfuß auf dem Eise - wie sich Mondstaub zwischen ihren glühenden Zehen wundersam kühl und zart nach oben drückt und alles bis zu den Knöcheln umschließt.

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Nach "barfuß auf dem Eise" aus dem "Leiermann" in Schuberts "Winterreise". Wer jetzt behauptet, auf dem Mond gäbe es kein Eis, dem würde Amira entgegnen, dass sich beispielsweise der helle Rand des Shackleton-Kraters am Südpol des Mondes, der seit drei Milliadren Jahren in der Finternis liegt, mit einer Eisschicht erklären ließe. Doch diese Eisschicht ist höchstens ein Tausendstel Millimeter dünn und besteht maximal zu einem Fünftel aus Wasser.

Sunday 5 July 2015

ANA LOPEZ

Dass ihrem Sohn das Hemd gefiel, erfüllte sie mit Stolz. Das war ihr mindestens genauso viel wert wie das herabgesetzte Prada-Kostüm aus der kleinen Boutique in Juarez, deren Existenz sie ihren besten Freundinnen verschwieg. Na ja, vielleicht nicht ganz so viel. Aber Ana genoss das Funkeln in Jorges Auges, das er mit aller Gewalt zu unterdrücken versuchte. Mehr konnte sie von einem 18-Jährigen in Begleitung seiner Mutter vor einer jungen, heißen Verkäuferin als Zustimmung nicht erwarten.

Als sie wieder auf die Straße kamen, sah Ana, wie sich zwei Polizisten näherten. Sie legte einen Zahn zu. Ihr SUV stand am Bürgersteig direkt vor dem Laden, aber er war doch zu weit weg. Jorge hatte bereits Blickkontakt mit den beiden Polizisten aufgenommen, und die nutzen ihre Chance. 

„Sie haben ihn gleich mitgenommen!“ Raúl winkte die Sekretärin nach draußen, während seine Frau mit der flachen Hand hysterisch auf seinen Tisch einschlug. „Sie werden ihn verheizen, Raúl, tu doch was. Tu was!“ Raúl tat auch was. Er stand auf und schenkte seiner Frau einen Tequila ein. Das Gleiche werde er nach der Cena mit seinem Sohn tun, um mit ihm wie mit einem Mann zu reden. Raúl summte leise. Ihm ging eine Zeile durch den Kopf: „Piensa, oh patria querida, que el cielo un soldado en cada hijo te dio“.

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Im April 2015 sind bei einem Anschlag im mexikanischen Bundesstaat Jalisco 15 Polizisten gestorben. Im Mai ist nahe Michoacán eine Patrouille der Bundespolizei angegriffen worden. Nach stundenlangen Gefechten waren 37 Angreifer und zwei Polizisten tot. Insgesamt forderte der mexikanische Banden- und Drogenkrieg seit 2006 weit mehr als 80 000 Opfer. Die Polizei rekrutiert junge Männer, wo sie sie finden kann.

"Piensa, oh patria querida..." (sp., aus der mexikanischen Nationalhymne) - "Denke daran, geliebtes Vaterland, dass der Himmel dir mit jedem Sohn einen Soldaten gegeben hat."

cena (sp.) - Abendessen

Thursday 2 July 2015

BURT FILLIGAN

Mary Lancaster wartete, bis die Sonne das Weite gesucht hatte. Dann schlüpfte sie aus dem Fenster und schlich sich in den Wald, wo sie mit Pete verabredet war, Marys Freund. Als man sie fand, tanzten die Glühwürmchen über ihrem zarten Busen. Es war der Sommer, in dem der Weizen Feuer fing und die Frau des Bürgermeisters den Verstand verlor.

Im Oktober hatte man endlich einen Sündenbock gefunden. Der Mann hieß Burt Filligan, ein Herumtreiber von 33 Jahren, der einen Führerschein besaß und genau 45 Dollar und 32 Pence, die man ihm aus der Hosentasche zog und demonstrativ in den Opferstock steckte. Man zwang ihn, dabei zuzusehen, so als müsste er sich bei diesem Anblick wie der Teufel unter heiligen Krämpfen winden.

Mister Filligan hatte immer beteuert, nicht zu wissen, wer Mary war. Aber was soll man machen, wenn dem halben Gericht die Pantoffeln zu groß sind. Zwei Jahre zuvor hatte Burt am Fluss einen Nachfahren von Sklaven getroffen, auch ein Herumtreiber, und mit ihm intensive Gespräch geführt, während vor ihnen das Wasser plätscherte und die Zikaden sangen. Es ging um wichtige Dinge, um Dinge, von denen die Leute keine Ahnung hatten, die zum Schluss über sein Schicksal bestimmten. Es war Inspiration für ein ganzes Jahr, für ein ganzes Leben. Was aus dem Schwarzen wurde, ist nicht bekannt.