Tuesday 30 September 2014

PIETJE POHL

Pietje Pohl hat einen Führer. Und das Tollste ist: Er weiß es nicht. Wenn er es wüsste, dann würde er sich doch schwer über sich selbst wundern. Denn er hält sich für kritisch und klug. Er ist es auch. Aber sein Führer war zunächst ganz leise an ihm dran.

Der Führer wusste, wo er Pietje packen konnte. Er schmeichelte ihm und ließ ihn träumen. So einfach es war, aber Pietje hatte Sorgen, die man nur bedienen musste, und dann lauschte er auch gern. Und so träumte er sich mit seinem Führer weg, bis hinein ins Paradies. Er vertraute ihm immer mehr. Und wenn sein Führer auf neue Ideen kam, dann waren die recht bald Gesetz: „Wie soll es denn auch anders sein?“

Alte Freunde hielten manche dieser Ideen für komisch und sagten Pietje, er solle sie doch mal hinterfragen. Aber er war schon so weit, dass er glaubte, sie wollten ihm sein Glück nicht gönnen, und wehrte sich sehr schnell. Dabei wollten sie nur ihren Alten zurück, denn der Neue lag ihnen fern.

Wie ich den neuen Pietje finde, kann ich nicht bemessen. Ich kenne ihn nicht, er kommt aus seinem Haus nicht raus. Es genügt ihm schon, wenn der Führer sagt, er könne es draußen vergessen.

Monday 29 September 2014

FILIPE CARVALHO

Filipe Carvalho bückte sich, um der Alten wieder auf die Beine zu helfen. Aber Mariana war schneller. Sie hatte ihr bereits unter den Arm gepackt. „Nimm doch mal meine Tasche und geh schon mal vor, ich helfe der Senhora“, sagte sie und schickte Filipe alleine die Gangway hinunter, während sie sich dem Tempo der Alten anpasste.

Sie waren ziemlich weit vorne gewesen beim Check-in, und so war er auch einer der ersten im Flugzeug. Ihm folgten immer mehr Passagiere durch die Tür und quälten sich zu ihren Plätzen. Das sah sich Filipe eine Weile gelassen an, doch mit der Zeit wurde er nervös: Mariana kam nicht nach.

Als alle anderen ihren Sitz eingenommen hatten und sie immer noch nicht aufgetaucht war, winkte Filipe eine Stewardess zu sich. „Und die Senhora? Ist sie denn da?“, fragte sie, aber Filipe sah nur Köpfe um sich herum und sie alle waren gleich. Er konnte es nicht sagen. „Mariana Souza“, wiederholte er stattdessen und ließ sich wieder auf seinen 8 D fallen. 

Die Stewardess beugte sich zu ihm herunter und steckt seinen Gurt zusammen. Dann ging sie nach vorne, wo sie in der Gangway verschwand. Auch sie sollte er nie wieder sehen.

Tuesday 23 September 2014

LOLE BILLER

Stell Dir vor, dass jemand in, sagen wir mal, 500 Jahren ein extraplanetarisches Studium absolviert und in dieser Zeit eine Frau kennen lernt. So wird es Falih Yang ergehen, geboren am 27. November 2507 in Kenston, das ungefähr zwei Flugstunden vom Mount Olympus entfernt liegt. Der Mount Olympus ist der höchste Berg im Sonnensystem, und er befindet sich auf dem Mars.

Falih Yang wird, bis er 20 ist, Kenston nie verlassen haben. Aber dann folgt er seinem Plan und fliegt zur Erde, um in der Schweiz zu studieren. „Wir reden von Mathematik und Informatik“, wie seine Mutter immer sagt. Im Jahr 2533 schafft er mit Auszeichnung den Abschluss in beiden Fächern und ergattert sich unter den neidvollen Blicken einiger Kommilitonen gleich einen Assistentenjob am Teilchenbeschleuniger am Cern.

Dies ist aber nicht seine Geschichte. Es ist die von Lole Biller, die Falih an einem Silvesterabend beim Raketenschießen in der Züricher Altstadt das erste Mal an sich gezogen haben wird. Es ist nicht seine, denn er will wieder zurück und stellt Lole Biller eines Morgens zwischen Milchkaffee und Schinkenspeck vor die Wahl: „Komm mit mir, oder Du bleibst halt hier.“

Wenn man zum Mars fliegen will, muss man ein Zeitfenster abpassen, in dem sich der Rote und der Blaue Planet sehr nahe sind. Jenseits dieses Fensters hat das Reisen keinen Sinn, und man muss Jahre warten, bis man wieder wechseln kann. Es wäre also ein Abschied für lange Zeit von ihren Eltern, ihren Freunden und allem, was ihr lieb ist.

Aber Loles Entscheidung war schon klar, bevor überhaupt eine vonnöten war.

Wednesday 4 June 2014

INDIA FLYNT

Am Anfang war noch alles in Ordnung. India Flynt bekam einen freien Nachmittag, den sie alleine am Strand von Sutton on Sea verbringen wollte. Das konnte sie jetzt gut gebrauchen, nach all dem Stress und den nervigen Leuten um sie herum. Sie hatte sich ihre Tasche schon am Morgen vor der Arbeit gepackt und setzte sich in ihrem Drang nach Abgrenzung von allem und jedem barfuß hinters Steuer. Nur weg von hier. Alleine sein, bis es dunkel wird. 

India hätte es verdient gehabt. Irgendwas Interessantes wäre am Strand passiert. Unerwarteter Sex? Wer weiß. Aber dann kam ich, ihr Erfinder, schlecht drauf. Hinter Maltby Marsh tauchte plötzlich ein von Hühnern verschissener Kleinlaster mit grotesk lächerlicher Werbeaufschrift auf und nahm ihr die Vorfahrt. India reagierte so, als habe sie noch ihre Pumps an. Aber ihr nackter Fuß ist nun mal kürzer. Die mit Manhattan 45P lackierten, zierlichen Zehen rutschten von der Kante des Bremspedals, und Indias Aston begann es Sekunden später, fürchterlich zu zerfetzen. 

Das Gleiche wäre auch ihr selbst passiert, wenn ich nicht vor mir ihren enttäuschten Blick gesehen hätte. Das rettete ihr das Leben. Statt mit dem Kopf unter dem aufgerissenen Dach mit 70 Meilen pro Stunde gegen die Trittbretter des Lasters zu klatschen, schleuderte es sie doch noch rechtzeitig aus dem Wagen ins Freie. 

In einer Wiese kam India wieder zu sich. Alles wirkte so friedlich, Wind raschelte in den Blättern eines Baumes. Sie versuchte aufzustehen. Aber Blut hatte sich zusammen mit frischem Gras an Wange und Schläfe verkrustet. Und die Grashalme hielten sie fest. So schwach war sie jetzt. Aber bitte, sie lebte.

Thursday 24 April 2014

ÁSDÍS GUNNARSDÓTTIR

Nachdem man Ásdís Gunnarsdóttirs leblosen Körper auf dem Boden und ihren Abschiedsbrief samt an puren Wahnsinn grenzender Formelsammlung gefunden hatte, waren Brynjar und Ásdís‘ studentische Hilfskraft, ein kurz angebundenen Österreicher im Erasmus-Programm, enorm geschockt. Sicherlich spielte die Nachricht ihres Suizids dabei eine gewisse Rolle. Schlimmer aber wirkte die Ironie, dass eine vom Institut als hochintelligent eingestufte und dementsprechend hochbezahlte Kraft sich derart irren konnte.

Doch in Wahrheit irrten die anderen. Brynjar, der sich als Chef einen feuchten Dreck um seine Angestellte geschert hatte, wusste nicht, dass sie Minuszeichen wie Punkte aufs Papier hetzte. Und so scheiterte er, über die Tote gebeugt, gleich bei der dritten Zeile in einem völlig absurden Ergebnis, dessen Formengewirr den Österreicher an eine in einen Karton geschissene Katze erinnerte. Brynjar warf Ásdís‘ Block vor den Augen des arbeitsscheuen Kriminalkommissars in den Müll.

Ásdís aber hatte Recht. In der Nacht auf den 21. Juli 2069 hatte sie den unglaublichen Beweis erbracht, dass es mehrere Universen gibt, und zwar unendlich viele. Sie konnte auf Seite 442 ihrer Abhandlung sogar darstellen, dass der Tod der einzig mögliche, dafür aber gesicherte Übergang ist. Noch während Brynjar bei der Personalabteilung anordnete, Ásdís Gunnarsdóttirs Gehalt ab sofort nicht mehr auszuzahlen, wurde sie auf einem Planeten wiedergeboren, dessen gesündestes Gemüse nach zarten Küssen schmeckt.

Wednesday 9 April 2014

MILLIE FELLER

Millie Feller war gerade dabei, ihren Plymouth zu waschen, als ein völlig durchnässter, etwas kurz geratener Mann vor ihr auftauchte und ihr mit vorgehaltener Pistole den Vorschlag unterbreitete, ihm so schnell wie möglich einen Gefallen zu erweisen. Man kann sich vorstellen, dass Millie unter diesen Umständen direkt den Waschlappen fallen ließ und ohne zu zögern dem Kerl zum Bach in das nahe Wäldchen folgte – und das, obwohl sie sich schon in der gesamten Nachbarschaft als äußerst stures Ding einen Namen gemacht hatte.

Sie galt außerdem als sehr schweigsam und zog es auch diesmal vor, absolut nichts zu sagen, als sie im Wasser einen Ford V 8 mit der Schnauze gegen die Böschung gedrückt entdeckte. Dafür aber sprudelte es schon seit Minuten aus dem nassen Mann heraus, der von einer Begehrlichkeit auf die nächste kam.

Er hätte es vielleicht selbst nicht für möglich gehalten, aber Millie konnte sie alle erfüllen: Verbandszeug und Jod für die stark blutende Frau auf dem V-8-Rücksitz waren im Schrank rechts unter der Spüle, saubere Hemden lagen in der Kommode drüben links in der Diele. Und sie hatte eben jenen frisch gewaschenen Plymouth, dem sie noch so lange hinterher sah, bis die Fremden mit ihm hinter dem staubigen Horizont verschwunden waren. Millie starb, bevor ihr Name wegen dieses kleinen Ereignisses einmal in einem Buch erscheinen sollte.

Thursday 23 January 2014

CARA COLE

Es brauchte seine Zeit, bis Cara Cole erste klare Gedanken fassen konnte. Das Gras, in dem sie lag, hatte ihre Haare feucht werden lassen. Ihre Füße waren ganz kalt. Am linken Bein zog sich eine Laufmasche hoch, und Erde klebte an ihrem Top. Der Rock saß nicht mehr richtig, aber es hatte sich niemand an ihr zu schaffen gemacht. Wenigstens das.

Noch etwas benommen richtete sie sich auf und versuchte im Sitzen, ihre Schuhe zu finden. Aber sie konnte in der Dunkelheit kaum etwas anderes erkennen als schwarze Silhouetten mächtiger Fichten, die sich ein paar Meter unterhalb von ihr zusammenschlossen und von da an das spärliche Mondlicht völlig verschluckten. Es sollte noch eine Weile dauern, bis sie verstand, wie tief drinnen sie sich im Wald befand. Und was überhaupt geschehen war.

Moment, war das der Wind? Cara hockte sich auf und horchte in die Nacht hinein.
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Sunday 19 January 2014

BEN SAMET

Es ist nicht wichtig, warum und weshalb. Aber es gab Leute, die erkannten ziemlich schnell, dass Ben Samet sich nicht gut wehren konnte. Und das nutzten sie schamlos aus. Ben ließ es über sich ergehen. Aber im Laufe der Zeit entwickelte er Zwänge, mit denen er sein zerstörtes Selbstvertrauen in den Hintergrund zu spielen versuchte. Das Übliche: Zwanzig Mal nachsehen, ob die Haustür abgesperrt ist, zwanzig Mal die Hände waschen.

Und dann gab es noch diesen: Ben musste mit den Fingerspitzen jedes einzelne Brett des Lattenzauns berühren, der auf dem Weg zu seiner Arbeit lag. Dabei bohrten sich jedesmal Splitter in seine Haut, und jedesmal schluckte er den Schmerz runter. Aber eines Tages drang ein Stück so tief ein, dass sich sofort Blut herauspresste und der Folter eine tiefe Farbe gab.

Ben blieb stehen und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand eine Frau mit dunklen Haaren vor ihm und hielt den Blick auf seine Wunde. Und als sie seine Hand in die ihre nahm, fühlte es sich für ihn so an, als wäre ein Tropfen Honig auf seiner Zunge gelandet.
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Wednesday 15 January 2014

OLE PERSSON und Linda Kummels

Seit ungefähr sechs Stunden schon taumelten Ole Persson und Linda Kummels mit ihrer Raumkapsel antriebslos knapp tausend Kilometer über der Oberfläche des Zwergplaneten Pluto, als Ole die Idee kam, in den hinteren Teil zu wechseln. Er hoffte, dass er dort über einen „Kasten“ an die Plasmaleitung kommen könnte, um sie zu modifizieren. Er hatte tatsächlich „Kasten“ gesagt und zeigte jetzt auf die Schleuse. 

Linda sah ihn völlig entgeistert an. „Es gibt überhaupt keinen hinteren Teil“, sagte sie, die Schleuse würde direkt nach draußen führen. „Raus ins All!“. Jetzt wurde Ole langsam ungeduldig. Sie solle sich endlich zusammenreißen, motzte er und musste prompt nach Luft schnappen, weil der geringe Sauerstoffgehalt in der Kapsel ein solches Aufregen kaum mehr duldete. Wenn es ihm gelänge, die Plasmaleitung umzupolen, könnten sich vielleicht sogar wieder alle Funktionen normalisieren, und die Zeiger in den Armaturen würden nicht ständig wie wild gewordene Metronome hin und her schlagen. Er stieß sich vom Boden ab und schnellte ins Heck. 

Wenn er die Schleuse jetzt öffne, würden sie sofort ins All raus gesogen werden und jämmerlich ersticken, brüllte ihm Linda hinterher und versuchte, sich ebenfalls abzustoßen. Aber sie war schon zu schwach, um genauso schnell zu sein. Ole erreichte als erster die Schleuse. „Du kannst ja nicht mehr klar denken“, rief er. Dann drehte er am Griff.
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Soundtrack zur Story: http://www.youtube.com/watch?v=fNLTGgPL6V4

Sunday 12 January 2014

JOE MILLER

Joe Miller war ein Farmer, der irgendwo im Nichts von Nebraska lebte. Er konnte das Haus seines Nachbarn nicht sehen, so weit stand es von dem seinen entfernt. Und wo seines war, konnte er nur grob erklären. Es auf einer Karte zeigen, das konnte er jedenfalls nicht. Und das war auch nicht nötig, denn es gab niemanden, der das wissen wollte. Warum auch? Ein altes Haus mit Holzbalkenverkleidung und blinden Fenstern, wie man sie schon zu Hunderten auf den Bildern von Edward Hopper gesehen hat. Ein gefundenes Fressen für einen Tornado, ungeschützt im braungebrannten Gras der Prärie. 

Hier lebte Joe Miller schon sein ganzes Leben lang. Nachdem seine Eltern und seine beiden Schwestern nacheinander gestorben waren, hörte er fast nur noch Stimmen aus dem Radio, das in seiner Küche stand. Wenn nicht gerade mal der kleine Frank Lebensmittel aus der Stadt brachte. Die beiden hatten einen Deal. Vielleicht noch Paul, der Polizist, Bill, der Postbote, und manchmal fuhr er rüber in die Stadt. Sonst war nur das Radio. 

Vor allem mochte er die Jim-Pitts-Show. Der Mann ließ guten Folk laufen. Joe hatte ein Ritual: Sobald Jim die Show mit seinem typischen „Hey my friends, what’s going on?“ eröffnete, stieß Joe mit seinem frischen, eiskalten Bier gegen die Antenne. So als würde er mit Jim anstoßen. Jeden Tag. Bis auf einmal: Gerade als er seine Hand um die beschlagene braune Flasche legte, entdeckte er den Fremden in der Küchentür. Der Mann hielt ein Gewehr in der Rechten, und seine Augen lagen im Schatten.
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